Politiker ohne Plan streiten um Worte statt um Inhalte
Begriffe wie "Sozialismus" oder "Kapitalismus" sind in meinen Augen einfach nicht hilfreich, das strukturelle Problem der demokratischen Kontrolle wirtschaftlicher Macht, über deren Notwendigkeit man sich über alle Lager hinweg einig ist, zu lösen. Die Konzentration der Wirtschaftsprozesse, man denke etwa an wenigen verbliebenen Marken in die Autoindustrie, erwächst aus technologischen und ökonomischen Notwendigkeiten; das gilt übrigens auch im Sozialismus. Pure Marktwirtschaft schafft sich auf Dauer durch Monopole selbst ab und gefährdet die Demokratie. Ludwig Erhard wollte dem Problem mit dem Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" beikommen, also auf der Basis des Wettbewerbs freie Initiative und gesicherten sozialen Fortschritt verbinden und z.B. Konzentrationsprozesse bremsen und Kartelle verbieten. Das Godesberger Programm der SPD mit dem von Kühnert zitierten "demokratischen Sozialismus" verfolgte im Kern das gleiche Ziel: Die durch Konzentration wirtschaftlicher Macht verbundene Konzentration von politischer Macht durch gesellschaftliche Kontrolle zu verhindern.
Beide Konzepte stammen aus dem vergangenen Jahrhundert, als die Welt noch heil, die Wirtschaft überschaubar und weder Umweltschutz noch Globalisierung ein Thema waren.
Inzwischen ist die Entwicklung nicht stehen geblieben. Das, was wir heute als Globalisierung bezeichnen, also freie Märkte ohne Schutz vor Preisdrückerei und Ausbeutung, lässt auf nationaler Ebene Mitspieler zu, die international aufgestellt und oft mächtiger als Nationalstaaten sind und denen sowohl die "soziale Marktwirtschaft" als auch der "demokratische Sozialismus", und damit auch Solidarität, Steuergerechtigkeit oder nationale Gesetze am Allerwertesten vorbei gehen. (Google, Amazon, Autokonzerne, Chemie- und Nahrungsmittelriesen). Gegen deren Macht und gegen die immer stärker werdende Ungleichheit zwischen Reichen und Armen innerhalb nationaler Gesellschaften wie auch global scheint bisher niemand ein Rezept zu haben.
Wenn Kühnert nun die Gefahren eines ungebremsten Kapitalismus ohne weitere Erklärung mit dem Zaubermittel "demokratischer Sozialismus" lösen will, so ist das zunächst nur eine Worthülse. Nicht nur wahltaktisch unklug, sondern inhaltlich einfach zu wenig konkret. Schließlich leben wir in einem Land, das in Folge der Teilung und kaltem Krieg über Jahrzehnte den "Antisozialismus" als Synonym für "Freiheit" verstand und dessen Bewusstsein von einem Zuviel an Bildzeitung geprägt ist. Entsprechend blöde auch die heftigen Reaktionen von konservativer Seite oder der Versuch von geistigen Tieffliegern, Kühnert persönlich zu diskreditieren, um nur keine Diskussion aufkommen zu lassen. Dabei brauchen wir nichts mehr als eine breite Diskussion um Inhalte und grundsätzliche Fragen, die auf den Nägeln brennen, nicht um Worthülsen.
- Wie soll denn die demokratische Kontrolle kapitalgesteuerter Großkonzerne organisiert werden ? Etwa durch Vergesellschaftung?
Ist nicht der VW-Konzern - mit seinen Millionen Kleinanlegern mit "Volksaktien" und dem Land Niedersachsen als demokratisch verfassten Großaktionär fast "vergesellschaftet" - beim Betrug seiner Kunden genauso skrupellos vorgegangen wie die Konzerne, die nicht durch ein Bundesland kontrolliert werden und großteils einer einzigen Familie, wenigen Scheichs aus dem nahen Osten oder chinesischen Investoren gehören? Geht der Energiekonzern RWE, ebenfalls zu einem großen Teil in Besitz der öffentlichen Hand, besser mit seinen Kunden und der Umwelt um als andere?
Oder durch eine Kontrollbehörde? Sind nicht bisher alle Verkehrsminister in Wirklichkeit einschließlich ihres Kraftfahrtbundesamtes Büttel der Autoindustrie? Hat das Kartellamt je wirklich Kartelle verhindert? Ich sehe weder Rezepte noch inhaltliche Diskussionen darüber.
- Ist es vertretbar, dass privatwirtschaftlich gewinnorientierte Firmen den Grundbedarf der Menschen - Essen, Trinken, Wohnen, Bildung und Gesundheit - kontrollieren? Sollen Firmen hunderttausende von Wohnungen besitzen und rein gewinnorientiert vermarkten dürfen, ohne auf Mieter Rücksicht zu nehmen?
Wollen wir wirklich eine Privatisierung der Wasserversorgung, des Bildungswesens oder der Krankenhäuser?
- Ist das weite Thema Umweltschutz bei der Privatwirtschaft (Bayer/Monsanto) in den richtigen Händen? Kann "der Markt" das Bienensterben und den Verlust tausender anderer Tierarten stoppen? Gibt es für marktwirtschaftlich handelnde Firmen überhaupt ein wirtschaftliches Motiv, die Klimaerwärmung zu verhindern? Muss nicht der Staat korrigierend eingreifen, wenn Küken geschreddert oder Ferkel betäubungslos kastriert werden? Wo bleibt das Handeln der Regierenden?
- Wie erreichen wir die schon beschlossenen und vertraglich zugesicherte Verminderung des CO2 Ausstoßes? Man streitet über Handwerkliches, ob die von allen als notwendig erkannte Verteuerung durch eine "CO2-Steuer" oder besser durch "Zertifikatehandel" zu bewerkstelligen sei, was in der Folge für den Bürger keinen Unterschied macht: Energie aus fossilen Brennstoffen wird deutlich teurer. An der Notwendigkeit zweifelt außer der AfD niemand, aber anstatt den Bürgern reinen Wein einzuschenken, streitet man erneut um Worthülsen.
Es bedurfte der wöchentlichen Demonstrationen von Schülern, um das Thema Klimaerwärmung endlich in den Fokus zu stellen. FDP-Lindners Verweis auf "Fachleute" ist seit der Bewegung "Scientists for Future" kräftig nach hinten los gegangen. Der typisch deutsche Hinweis auf die "Schulschwänzer" hat den Protest noch mehr ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.
Ähnliches gelingt im Moment Kühnert mit seinen provokanten Thesen, immerhin dieses Verdienst gehört ihm. Je heftiger die Angriffe auf ihn, desto mehr wird wieder über Grundsätzliches diskutiert.
Und das ist seit mindestens zwei Jahrzehnten überfällig, denn ein bloßes "Weiter so" geht nicht, wenn man die Zukunft unserer Jugend bewahren will.
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