Anmerkungen zum Wahlrecht

Brauchen wir eine Wahlrechtsreform?



Nachdem die Bildzeitung sich des Themas "Wahlrechtsreform"  in ihrer typischen verdummenden Art angenommen hat, hier ein paar hoffentlich noch verständliche Infos zur Problematik, welche weitaus komplizierter ist, als Otto Normalwähler denkt. 

Das liegt an den zum Teil widersprüchlichen Forderungen, die man an das Verfahren und das Wahlergebnis einer geheimen, freien und gleichen Wahl haben kann:



a) Alle Stimmen sollen das gleiche Gewicht haben. (Es gab mal Zeiten, da wurden die Stimmen nach der Einkommssteuer gewichtet. Ein Herr Krupp hatte so viel Stimmrechte wie 30000 seiner Arbeiter.)

b) Die Zusammensetzung der gewählten Parlamente soll den Wählerwillen möglichtst genau repräsentieren, also 43,5% der Wählerstimmen sollen auch zu 43,5% der Sitze führen.

c) Für die praktische Arbeit der Parlamente wünscht man sich klare Mehrheiten und eine Begrenzung der Anzahl der vertretenen Parteien, wobei die 5%-Sperrklausel bereits den Zielen a) und  b) widerspricht.

Reines Mehrheitswahlrecht

Verfolgt man idealtypisch das letzte Ziel, so führt das zu einem reinen Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien. Pro Wahlkreis kommt jeweils nur die Person mit der Stimmenmehrheit ins Parlament. Die Stimmen aller anderen verfallen ersatzlos. 
Ein Mehrheitswahlrecht schafft meist stabile Mehrheiten und führt logischerweise oft zu einem Zwei-Parteien-System, da kleine Parteien kaum eine Startchance haben.  Die Ziele b) der Repräsentation des Wählerwillels und a) der Gleichwertigkeit der Stimmen wird beim Mehrheitswahlrecht völlig aufgegeben. Es kann sogar eine Minderheit von Wählern zu einer Mehrheit im Parlament führen. In manchen Ländern wird die Stabilität der Regierung auch dadurch erreicht, dass man der führenden Kraft - ungerecht, aber sehr praktisch - einen Zuschlag von x-Parlamentssitzen gewährt. 

Ein neben der Ungerechtigkeit wesentlicher Nachteil des Mehrheitswahlrechtes ist, dass der Zuschnitt der Wahlkreise erheblichen Einfluss auf die Sitzverteilung hat (siehe Bild). Wer einmal an der Macht ist und die Wahlkreise einteilt, wird dadurch bevorzugt.


Verhältniswahlrecht

Stellt man die Ziele a) und b) in den Mittelpunkt, so schließt das ein Mehrheitswahlrecht aus und man kommt zu einer "Verhältniswahl". Die Stimmenverhältnisse im Parlament entsprechen möglichst genau den Stimmenanteilen bei der Wahl.

Hier liegen die wesentlichen Tücken eher bei Auswertung der Wahlergebnisse, die im Prinzip alle mit der Notwendigkeit zu tun haben, dass man die Stimmenanteile runden muss.
Dazu gibt es zahlreiche Berechnungsverfahren, die auf unterschiedliche Art das Ziel der Wahlgerechtigkeit (Gleichwertigkeit der Stimmen) verfolgen.

Je nach gewähltem Verfahren gibt es kleine, aber willkürliche und ungerechte Sprünge in der Sitzverteilung. Teilweise sind diese Ungerechtigkeiten mathematisch kaum vorhersehbar. 
Am besten funktioniert das Verhälniswahlrecht, wenn es nur einen einzigen großen Wahlkreis gibt, womit man sich allerdings den Nachteil einhandelt, dass die lokale Bindung von Kandidaten keine Rolle spielt und die Parteilisten alles bestimmen. 

Wahlen zum Bundestag oder Landtag

Die bei uns vorgeschriebenen Wahlverfahren versuchen, die Vorteile von Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen und eines Verhälniswahlrechts im gesamten Wahlbereich, genau genommen den einzelnen Bundesländern,  zu vereinen. 



Bei den Bundestags- und Landtagswahlen hat man das so gelöst, dass jeder Wähler zwei unterschiedliche Stimmen hat. Die Erststimme für den Wahlkreiskandidaten, der nach den Regeln der Mehrheitswahl bestimmt wird, also nur der Wahlkreisgewinner zieht ins Parlament ein, die unterlegenen Stimmen verfallen. 



Die Hälfte der Bundestagssitze wird durch direkt gewählte Wahlkreiskandidaten besetzt. Die "Zweitstimme" bestimmt nach den Regeln der Verhältniswahl die Zusammensetzung des gesamten Parlamentes, d.h. die Zweitstimme verteilt in Wirklichkeit die politische Macht, was den Verfall der unterlegenen Erststimmen unkritisch macht.
Dummerweise kann es zwischen der Anzahl der mit Erststimmen direkt gewählten Vertretern einer Partei und der Anzahl, die der Partei nach den Zweitstimmen zustehen, Differenzen geben.

Wenn, wie früher oft im Falle der FDP, eine Partei kein Direktmandat gewinnt, ihr aber 10% Sitze zustehen, werden diese Sitze nach der Reihenfolge der Parteiliste besetzt.
Schwieriger, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach den Zweitstimmen zustehen (Überhangmandate). Beispiel: Eine Partei A hat alle Wahlkreise direkt gewonnen, also besetzt sie damit schon die Hälfte des Parlamentes. Laut Zweitstimmen stehen der Partei A aber nur 40% der Sitze zu, sie hat also ein Viertel zu viele Sitze (10% mehr als die 40%, die ihr zustehen). Dann wird das gesamte Parlament um ein Viertel vergrößert, also alle anderen Parteien bekommen auf ihren Anteil auch das Viertel zugeschlagen (Ausgleichmandate), das die Partei durch den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmen schon hatte. Dadurch wird das Parlament größer als geplant, was die Bildzeitung zu dem Ausdruck "Blähparlament" veranlasste, bei einem Verhältniswahlrecht aber ein Gebot der Gerechtigkeit ist. 

Schon vor Jahrzehnten, als nur drei Parteien im Bundestag saßen, gab es seitens der CDU Überlegungen, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen, was damals zum sofortigen Ableben der FDP geführt hätte. Eine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung hätte die damalige große Koalition gehabt. 
Der aktuelle Vorstoß einiger CDU Abgeordneter geht in eine ähnliche Richtung, ohne das englische System vollständig einzuführen. Das Mehrheitswahlrecht soll nur auf die Hälfte des Parlaments angewandt werden, das Verhältniswahlrecht nicht mehr auf das ganze Parlament, sondern nur auf die zweite Hälfte. Ein solches "halbes Mehrheitswahlrecht" würde die Anzahl der Parlamentssitze stabil halten, der CDU als der aktuell stärksten Kraft nutzen und allen kleineren Parteiene schaden. Die Repräsentation des Wählerwillens in der Zusammensetzung der Parlamentes ginge zu Gunsten einer stabileren Mehrheit verloren. Die notwendige verfassungsändernde Mehrheit dafür ist darum nicht zu erwarten.


Kommunalwahlen sind etwas anders


Auch weil viele Wähler den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme bei der Bundestagswahl nie wirklich verstanden haben, sieht das Kommunalwahlrecht in NRW nur eine Stimme vor.
 Der Wähler wählt mit seiner einen Stimme im Wahlkreis den Wahlkreiskandidaten und gleichzeitig für das Gesamtparlament die Machtverteilung zwischen den Parteien. 
Der Wähler gerät ggf. in einen Konflikt, ob er bei der Wahl den besonders fähigen Wahlkreiskandidaten der Partei A wählen will, obwohl er politisch eher Partei B bevorzugt. Der Zuschnitt der Wahlkreise hat zwar Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Rates, nicht aber auf die Machtverteilung zwischen den Parteien.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es nach Verfassungsgerichtsurteilen keine Sperrklausel für Kommunalparlamente geben darf. Das Ziel einer stabilen Regierung mit verlässlichen Mehrheiten, dass auf Bundesebenen die 5%-Hürde erlaubt, fällt in der Kommune weg, weil hier die "Regierung" aus vom Volk gewählten Bürgermeistern und der Verwaltung besteht und per se stabil ist. Ohne Sperrklausel können tendenziell mehr kleinere Parteien in ein Kommunalparlament gewählt werden. 

Aufgehalten wird dieser Trend in kleineren Gemeinden nur durch die Tatsache, dass das allgemeine Interesse an Kommunalpolitik zu gering ist und darum die personellen Ressourcen für eine aktive Wahlbeteiligung oft nicht gegeben sind. Gerade durch den Verzicht auf die Zweitstimme der Bundestagswahl sind neue Parteien praktisch gezwungen, in allen Wahlkreisen anzutreten, um ihre Chancen zu erhöhen. 

Das erfordert in Weilerswist zumindest 15 wählbare Kandidaten, die aus der Deckung kommen müssen und für eine Partei in den Wahlkampf ziehen. 

Bei uns ist dadurch bisher ein Antreten der AfD für die Ratswahl verhindert worden und das macht es auch der UWV nicht leicht, da sich ja alle aus dem bescheidenen Pool der politisch Interessierten und Einsatzwilligen schöpfen müssen. 

Schon die etablierten Parteien tun sich schwer, genügend ehrenamtlich Tätige für die Ratsarbeit zu finden, zumal diese neuerdings auch noch als unfähige und eigennützige "Sitzungsgeldempfänger" diffamiert werden. 

Dennoch wird sich der Kreis der antretenden Parteien von jetzt vier mit UWV auf fünf, bei Antritt weiterer Parteien auch noch mehr erhöhen. 


Bekommen wir einen Blährat ?


Die Problematik der Überhang- und Ausgleichsmandate wird die Gemeinde darum voraussichtlich noch schlimmer treffen als den "aufgeblähten" Bundestag. Wenn sich die Stimmen auf mehr Parteien verteilen, dann bekommen in der Tendenz alle Altparteien einen geringeren Stimmenanteil als früher, auch der jeweilige Wahlkreissieger. 

Im schlimmsten denkbaren Fall bekommt etwa die CDU als größte Partei in Weilerswist alle 15 Direktmandate und damit 50% der Sitze, hat aber deutlich weniger Stimmenanteil. 

Modellrechnungen führen je nach angenommenem Wahlausgang zu einer Aufstockung auf bis zu 50 Ratssitze, wo man sich doch auf 30 Sitze verkleinern wollte. 

Solche Überhangmandate sind notwendige Folgen des Wahlrechts. Eine verfassungskonforme Lösung, die Ausgleichsmandate verhindert und dabei das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Wählerstimmen bewahrt, ist noch nicht gefunden. 

Die Sache mit der Auswertung

Je mehr kleinere Parteien existieren, desto mehr wirken auch die mathematischen Unzulänglichkeiten des Auswertungsverfahrens. 
Man kann einfach nicht allen gewünschten Prinzipien gleich gerecht werden. 

Wenn man 100% Stimmen auf 30 Sitze zu verteilen hat, dann entspräche das im Schnitt 3,333% Stimmen pro Sitz, eine Art "natürliche Sperrklausel". 
Stimmt aber nicht, denn in der Regel reichen deutlich weniger Stimmen, um in ein Parlament einzuziehen. 
Durch das Auswertungsverfahren sind die Verhältnisse für den jeweils ersten Sitz einer Partei deutlich günstiger, abhängig vor allem von der Anzahl der Parteien und dem Zufall der Verteilung. Die genauen mathematischen Zusammenhänge sind außerordentlich unerfreulich, aber wer es mag, schaue bitte hier: https://www.wahlrecht.de/verfahren/faktische-sperrklausel.html

Ergebnis: Bei fünf Parteien bleibt mit Sicherheit ohne Ratssitz, wer unter 0,666% der Gesamtstimmen bleibt. Mit Sichheit drin im Rat ist eine Partei, die mindestens 2,666% erreicht. Auf Weilerswist übertragen: Bei rund 8000 Wählern ist eine Partei mit dem ersten Sitz mit Sicherheit dabei, wenn sie 214 Stimmen bekommt. Keine Chance hat sie unter 53 Stimmen, dazwischen ist es Glücksache. Ab 130 Stimmen ist die Wahrscheinlichkeit des Einzugs über 50%.

wesentliche Quelle :  https://www.wahlrecht.de


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