Neues aus dem alten Weilerswist

Für 20 Jahre waren wir Franzosen

Nach der französischen Besetzung durch napoleonische Truppen von 1794 – 1814 kam Weilerswist mit seinen heutigen Ortsteilen zu Preußen. Aus den ehemals französischen Kantonen Lechenich und Zülpich wurde 1816 der neue Landkreis Lechenich gebildet, der schon 1827 in Kreis Euskirchen umbenannt wurde. Das hatte wohl „religiöse“ Gründe:  Der Landrat fühlte sich als evangelischer Christ in der Stadt höchst unwohl und wurde tatsächlich von der ausschließlich katholischen Bevölkerung bedroht. Es heißt, man habe ihm nicht nur Mist vor seinem Amtssitz abgeladen, sondern ihm auch einen Leichenwagen bestellt.
So wurde Euskirchen zur neuen Kreisstadt.
Napoleon - Befreier oder Unterdrücker?

 Im krassen Gegensatz zur Darstellung der späteren deutschtümelnden und stets antifranzösischen Geschichtsschreibung war die Franzosenzeit für den Großteil der Bevölkerung eine Befreiung, Kirche und Adel ausgenommen. 

Als Preußen die vorher französischen Gebiete übernahm, da waren die verwaltungstechnisch und organisatorischen Grundlagen für einen modernen Staat gelegt und das Mittelalter überwunden: 
Die Leibeigenschaft war ebenso abgeschafft wie alle Adelsprivilegien, die Gewerbefreiheit war eingeführt und die Gleichheit vor dem Gesetz hergestellt.

Aber Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren auch ungewohnt und unheimlich.

Um sich ein Bild von den neu erworbenen Gebieten zu machen, verfügte der preußische König nach französischem Vorbild eine Bestandsaufnahme des Landes und seiner Bevölkerung.  Zum ersten Mal in der Geschichte der Landbewohner interessierte sich die Obrigkeit für die Zustände im Lande und ließ statistische Daten erfassen.  So sind aus dem nur gut ein Jahrzehnt existenten Landkreis interessante Fakten überliefert, auch über Weilerswist und die Umgebung. Gegenstand der Untersuchungen waren geografische Fragen wie Klima, Bodenbeschaffenheit und Landwirtschaft, aber auch soziale Themen wie Gesundheitswesen, Ernährungslage, Bildung und der „moralische Zustand der Einwohner“ in seiner ganzen Breite.
Die Ergebnisse, für deren Erhebung bei den Ortsbürgermeistern der Kreisphysikus Johann Wilhelm Carl Ludwig verantwortlich war, sind in einem Buch „Der Kreis Lechenich um 1826“ in der Bearbeitung von Sabine Graumann gebündelt (Böhlau Verlag Köln 2008). Fast alles, was ich in den kommenden Beiträgen über das alte Weilerswist Neues berichten kann, entstammt diesem Buch, das ich historisch Interessierten wärmstens empfehlen kann.  

 





















Die eigentliche Arbeit der Aufnahme aller Daten oblag den jeweiligen Ortsbürgermeistern, die dabei mehr oder weniger gründlich ans Werk gingen. Der Lommersumer Bürgermeister hat leider die gesamte Aufgabe ignoriert und/oder im Sinne des modernen Datenschutzes nichts abgeliefert,.
Um den Leser auf den Geschmack für einen eigentlich ernsten und „drögen“ Stoff zu bringen, eine Aussage des Kreisphysikus über die Weilerswister Vorfahren:

 “Die Erwachsenen scheuen das Bad und außer dem ersten Bade nach der Geburt, stirbt der größte Theil, ohne je die Haut anders als zufällig gereinigt zu haben.“

 
Arbeit und Brot

Der gesamte Kreis hatte gut 25 Tsd. Einwohner, davon fast 2100 in Weilerswist und 1100 in Lommersum.  Weilerswist in seinen heutigen Grenzen war damit deutlich größer als die „großen“ Städte Euskirchen und Lechenich mit je ca. 2300 und Zülpich mit 1300 Bewohnern. Die Altersverteilung glich der heute in Drittweltländern üblichen, rund die Hälfte der Bevölkerung war unter zwanzig, heute sind es kaum 20%. 
Während zurzeit mehr als jeder Zweite erwerbstätig ist, waren es im Weilerswist vor 200 Jahren mit 380 Erwerbspersonen nur etwa ein Fünftel. 179 Ackerleute und 107 Tagelöhner stellten die größten Gruppen, der Rest verteilte sich auf 20 andere Handwerksberufe. Das heißt keineswegs, dass die Bewohner damals fauler gewesen wären als heutzutage. In Ermangelung von Fachmarktzentren, Discountern und Tante-Emma-Läden war durchweg Selbstversorgung angesagt, d.h., wer nicht als Handwerker in Lohn und Brot stand und nicht Kleinkind oder Greis war, arbeitete in Landwirtschaft und eigenem Garten mit. 
Mit diesem Wissen machte sich der Bürgermeister von Erp die Datenerhebung besonders leicht; er zog einfach von der Gesamtbevölkerung von ca. 2100 die ihm bekannten 60 Handwerker ab und erklärte den Rest von 2040 Bewohnern zu Ackerleuten, was bis auf die paar Kleinstkinder gar nicht so falsch war. Jede Familie zog Salat und Gemüse, mästete ein Schwein und hielt natürlich alle Arten von Federvieh für den Eigenbedarf. Mindestens einmal pro Woche gab es Fleisch. Leibgericht für viele im gesamten Kreis waren „Dicke Bohnen“. Das Brot wurde offensichtlich überwiegend selbst gebacken; auf vier in den Getreidemühlen Beschäftigten gab es nur zwei Bäcker im Ort. Wichtiger war wohl das „flüssige Brot“, denn es wurden immerhin neun Schankwirte und vier Bierbrauer und Brandweinbrenner gezählt. Das häufigste Getränk war Wasser, das aus zahlreichen Brunnen geschöpft wurde, während das Brauchwasser aus den Mühlengräben kam. Lediglich Vernich  hatte im Sommer Wassermangel. Über den an manchen Stellen schädlichen Bleigehalt des Erftwassers erfahren wir nichts, obwohl in Bergheim gelegentlich schon Vieh nach dem Genuss von Bachwasser gestorben war.  

Eine der ersten Karten um 1800

Das Land war wie auch heute noch sehr fruchtbar und das milde Klima galt als eines der besten in Preußen. Kein Wunder, dass die Bodenfläche überwiegend für Ackerbau und Viehzucht verwendet wurde. Die aufgeführten Weizenerträge lagen mit 11 Scheffel pro Morgen (2 t/ha) etwa doppelt so hoch wie damals in Thüringen. Unsere heutigen Erträge sind mit 7-8 t/ha viermal so hoch und werden noch dazu von nur einem Hundertstel in der landwirtschaftlich Tätigen erbracht.


Insgesamt war die Ernährungslage der Bevölkerung zufriedenstellend, die Leute waren von kräftigem Körperbau, galten als unaufgeregt und genügsam.

Wirklich reich war in Weilerswist keiner, ein hinreichendes Auskommen hatte die Mehrheit, bettelarm waren nur 5% der Leute.

 „Dennoch sind die Bewohner sehr reinlich, „selbst der ärmste Mann wechselt des Sonntags die Wäsche.“


Alles mit der Kraft von Mensch und Tier -  Ernte




 Ein nützlicher Tipp für den Haushalt
 
Die nun schon seit 50 Jahren in unseren Haushalten gebräuchlichen Pfannen und Töpfe mit Teflon-Beschichtungen sind bei manchen Mitbürgern in Verruf geraten, weil der dazu verwendete Stoff Polytetrafluorethylen (PTFE) in Verdacht steht, krebserregend zu sein. Unsere Vorfahren benutzten Kochgeschrirr aus Eisen und hatten diese Sorge nicht, dafür aber eine andere, nämlich Rost. Sollten Sie also mit dem Gedanken spielen, auf Eisenpfannen umzustellen, hier eine schlichte Empfehlung des Euskirchener Kreismedicus – heute sowas wie Leiter des Kreisgesundheitsamtes- Johann Wilhelm Carl Ludwig aus dem Jahre 1826:

Eisen wird durchgehends als Kochgeschirr benutzt und zwar Gusseisen als Kessel, geschlagenes Eisen als Pfanne. Das Eisen ist nie mit einem Ueberzug versehen. Wenn Geschirre noch neu und nicht selten rostig sind, bedient man sich folgender Methode, um sie vom Rost zu reinigen, und das neue Rosten zu verhüten: das neue Geschirr wird mit Pferde-Mist ausgekocht, oder rein gescheuert, hierauf wird es mit Lein- oder Rüböl angestrichen, und erhitzt, bis das Öl zu brennen beginnt, das Gefäß wird sodann vom Feuer genommen und sich überlassen. Die Geschirre bekommen dadurch einen Firniß-Ueberzug, der nur von starker Lauge zerstört wird. Werden solche Geschirre nach jedesmaligem Gebrauch mit Kleyen [Hülsen der Getreidekörner] gereinigt,  so sind sie selbst zum Kochen der Hülsen-Früchte brauchbar, ohne daß sie schwarz werden. Hat sie der Überzug durch Gebrauch verloren, muß er erneuert werden.“


Die Beschaffung von Pferdemist könnte heutzutage schwieriger sein als vor zwei Jahrhunderten, als Personen- und Güterverkehr alleine durch Pferdewagen bewältigt wurden. Man musste als nur vor die Türe treten, um an Pferdemist zu gelangen, denn Pferde waren die damals gebräuchlichen landwirtschaftlichen „Zugmaschinen“, wobei hauptsächlich zwei Rassen verbreitet waren.
„Holländer Pferde“, oft gute Wagenpferde, bekam man in Euskirchen  : „Auf dem Markte zu Euskirchen, gehalten am 28.Oktober, werden 200 bis 250 Stück Füllen verkauft, und zwar als Saugfüllen von 4 bis 8 Monaten, oder Einwinter, von ½ Jahr und darüber.“

 Eine zweite gebräuchliche Rasse waren die „Eifler Pferde, der Markt ist zu Kall-Reifferscheit. Sie sind klein, aber vom kräftigen Körperbau […], hart, arbeitsam, dauerhaft, nicht leicht zu Krankheiten geneigt und nehmen mit schlechtem Futter vorlieb; da sie aber weniger ansehnlich als der Holländer sind, so werden sie bey uns nur von armen Ackerleuten gebraucht.“

Ein „Holländer“ reichte zum Beackern von ca. 30 Morgen, eine „Eifler“ schaffte nur 20 Morgen. Bei rund 6000 Morgen Ackerland in Weilerswist benötigte man schon rund 300 Tiere allein für den Ackerbau, also beinahe ein Ackerpferd  pro Haushalt. Die Versorgung mit Pferdemist zur Pfannenreinigung und Gartendüngung war gesichert

Holländer Kaltblut, ein gutes Wagenpferd




















Wohnen, Feiern und Fortpflanzung

Die Wohnverhältnisse auf dem Land waren überall in Deutschland aus heutiger Sicht in einem Maße ärmlich, dass es kaum vorstellbar ist, das gilt auch für Weilerswist. Die Straßen und Höfe waren ungepflastert, man musste bei Regen oft „bis an die Waden im Kothe gehen“. Die Häuser hatten einen Eingangsbereich, der gleichzeitig Küche und Esszimmer war und einige (oft nur zwei) winzige Schlafkammern. Immerhin ein Fortschritt gegenüber vergangenen Jahrhunderten, als Mensch und Vieh in einem Raum lebten. Dazu Krünitz unter den Stichwort Haus:

"In manchen Weltstrichen hat sich die Bauart geschwinde und in starken Schritten verbessert; in andern hingegen sieht sie noch gar zu sehr den grauen Zeiten ähnlich. Dahin möchte man fast die westphälische rechnen. Die gemeinen Häuser (ich nehme die zu unsern Zeiten neu aufgeführten aus,) sind in der That nichts anders, als Hütten ohne Abtheilung für die Nothdurft und Bequemlichkeit. Menschen und Vieh sind in einem Raume beysammen. Wenn, nach PfeiliconFig. 1268 a), der umschlossene Raum A B C D ist: so findet man in demselben eine Bucht a für das Vieh; eine dergleichen, b, für die Menschen; einen Feuerherd, c, ohne Rauchfang und Schorstein. Ueber dem Herde hängt ein Kessel, in welchem für Menschen und Vieh gekocht wird. Ein erhabenes Stück Lehm oder Mauer, mit einem Bret belegt, macht den Tisch d. Kein Gebälk, als etwann ein Spannbalken, keinen Boden zu abgesonderten Vorräthen, findet man in diesen Gebäuden. Eine Thür und etliche Löcher, einiges Licht zu erhalten, und den Rauch mehr in Bewegung nach der Höhe unter das Dach zu setzen, sind die wesentlichen Theile eines solchen Hauses. Unter dem Dache oder Sparrwerke, welches eine ziemliche Höhe hat, räuchern die Einwohner ihre schmackhafte Schinken, als je in einer aufs beste angelegten Rauchkammer geschehen mag. Fenster und Glas ist dortigen Einwohnern noch ein theures Baumaterial. Eine runde Scheide von Glas in einem eben so geformten Loche ist schon ein Stück der größern Bequemlichkeit, wo sonst es ein <22, 305> Strohwisch verrichtet, welcher nach Gutbefinden vorgesteckt, oder wegen des Lichtes und der Luft heraus gezogen wird. Die Höhe des Rumpfes ist niedrig, und kaum von eines langen Menschen Höhe; die Bedachung, Stroh oder Schilf, oder an manchen Orten Schindeln. Siehe PfeiliconFig. 1268 b)."  
Neuere Bauten waren nun Fachwerkhäuser, deren Fachungen mit Reisig und Lehm ausgefüllt waren. Der Fußboden war in aller Regel aus gestampftem Lehm, Keller gab es selten. Badezimmer oder Toiletten hätte man vergebens gesucht, denn es „bestehen auf dem Lande selten Abtritte. Der Ackersmann deponiert die faeces [den Kot] gleich auf dem Mist.   
Geheizt und gekocht wurde mit offenen Feuer in einem Herd aus Lehmziegeln. Darüber hing an einem eisernen Galgen an einer Kette der Kochtopf. Der Kamin war eigentlich mehr ein Rauchfang, ebenfalls aus Holz oder Reisig mit Lehmverputz. Die Türen waren niedrig, die Fenster klein und noch lange nicht überall mit Glasscheiben versehen. Man schlief in Holzbetten auf Stroh oder Strohsäcken, stand mit dem ersten Tageslicht auf und ging bei Dunkelheit bald zu Bett. 

Beengte Wohnverhältnisse müssen die Fruchtbarkeit nicht beeinträchtigen, im Gegenteil. Im Schnitt bekamen Verheiratete alle vier Jahre ein Kind, was der Kreisphysikus Ludwig für zu wenig hielt und auf die lange Stillzeit der Säuglinge zurückführte, auch höre die Fruchtbarkeit mit dem 40 Jahre auf. Tatsächlich war die Geburtenrate etwa viermal so groß wie heutzutage und trotz höherer Säuglingssterblichkeit ergab sich ein deutlicher Nettozuwachs der Bevölkerung. 

„Die meisten Geburten fallen im December und Januar, die wenigsten im Juny und July, Die einzelnen Oerter anbelangend, so sind die Tage der Volksfeste der Conzeption [Befruchtung] am günstigsten.“  

Wohl auch aus dieser Erkenntnis forderte der Kreisphysikus mehr Belustigungen und Volksfeste, von denen es nur Kirchmeß oder Kirchweih gebe. “An einigen Orten wird ein Vogel-Schießen entweder mit der Kirmeß vereinigt, oder besonders gehalten. […] Es ist gewiß an der Zeit, Volks-Feste einzuführen, die Zufriedenheit und den Lebensgenuß der Einwohner zu befördern.“  Besonders Tanzveranstaltungen schien er mehr zu vermissen als die Landbevölkerung. „Von allen anderen Belustigungen und Zeitvertreiben „ kennen die Landleute nur das Kegel- Karten- und Lotterie-Spiel.“„Das Frauenzimmer findet sich nur an den Kirmeß-Tagen in Gesellschaft der Männer ein. Ueberhaupt lebt man wenig gesellig, aber auch fern von aller Ausgelassenheit und Säufer und Schläger sind seltene Erscheinungen.“ Weilerswister wie alle Kreisbewohner waren solide, anständige Leute, nicht zuletzt war ihr gelobter „Keuschheits-Sinn“ durch eine enge soziale Kontrolle garantiert.  „Wilde Ehen, Hurerey und Bordelle kennt man nur dem Namen nach.“  Nur das Tabakrauchen von 12  bis 13jährigen Jungen war nicht in den Griff zu kriegen.


Gesundheit, Bildung und Verbrechen

Als gelernter Arzt legte der Kreisphysikus Johann Wilhelm Carl Ludwig besonderes Augenmerk auf die ärztliche Versorgung, sofern solche vorhanden war. Im gesamten Kreis gab es gab es neben ihm selbst noch einen studierten Arzt in Lechenich und drei in Zülpich, das auch mit zwei Apotheken gut versorgt war. Zwei weitere Apotheken befanden sich in Euskirchen und Lechenich. Für jeden Ort war eine Hebamme vorgesehen, allerdings war die Stelle in Weilerswist zur Zeit der Zählung nicht besetzt, trotz der bis zu 40 Geburten pro Jahr. Auch keiner der drei unstudierten Wundärzte im Kreis lebten in Weilerswist, das damit ohne lokale medizinische Versorgung war. Trotzdem, böse Zungen behaupten deswegen, waren die Weilerswister Einwohner überwiegend gesund, mal von gelegentlichem Fieber oder Krätze abgesehen. Wahrscheinlich war die viele Feldarbeit an der frischen Luft und die Ernährung mit den Früchten aus dem eigenen Garten der Gesundbrunnen. 

Was die Schulbildung der Bevölkerung anging, sah es im gesamten Kreisgebiet traurig aus. Es gab keine einzige weiterführende Schule, nur Elementarschulen, die höchst ungern besucht wurden. 
 
Wahrscheinlich viel zu schön und viel zu hell - ein Schulmuseum (Foto pixabay)


Etwa 40% der Schulpflichtigen ging zur Schule, und das auch nur im Winter, wenn in der Landwirtschaft weniger Arbeit anfiel.  Noch Jahrzehnte später war es selbst mit drakonischen Strafen nicht möglich, die Schulpflicht, die in Preußen schon seit 1763 mit dem Generallandschulreglement flächendeckend eingeführt war, im Kreis durchzusetzen. Schon die Franzosen hatten sich den Ausbau des Schulwesens vorgenommen, allerdings in ihrer kurzen Herrschaftszeit wenig erreicht. Immerhin hatte sie in Lechenich den einzigen Lehrer eingesetzt, der seinen Beruf studiert hatte. Alle anderen „Lehrer“ waren die Küster der örtlichen Kirchen, die das Schullehramt nebenberuflich betrieben, man möchte gar nicht wissen wie. Der gesamte Kreis hinkte hinsichtlich der Bildung seiner Einwohner den restlichen Gebieten um Jahrzehnte hinterher, was nicht zuletzt dem Einfluss der katholischen Kirche zuzuschreiben war, von deren Pfarrern im Kreis nach Einschätzung des Kreisphysikus auch kein einziger über Bildung verfügte. Die Frage, ob es für den Landbewohner überhaupt gut sei, lesen und schreiben zu erlernen, war hier noch lange nicht klar beantwortet.

Die vielen Daten und Zusammenhänge werden wohl keinem Leser zu dem Spruch „Früher war alles besser!“ verleitet haben. Deshalb zum Schluss etwas Positives, die Kriminalstatistik: In den fünf Jahren von 1820 bis 1824 gab es im gesamten Kreis genau einen Mordfall, einen Straßenraub, 11 Einbrüche und 38 Diebstähle. Zumindest die Einbrüche und Diebstahlsdelikte „schaffen“ heutige Zeitgenossen in einer Woche.

Der Autor dazu „ Der besonnene Karakter des Volkes, seine Arbeitsamkeit, einfache Lebens-Art und seine bisherigen guten Nahrungs-Quellen haben es von häufigen Verbrechen ferngehalten.“


Versuch einer Einordnung

Die Zeit, aus der Kreisphysikus Johann Wilhelm Carl Ludwig über Weilerswist und unseren Heimatkreis berichtet, stand im Zeichen gewaltiger politischer Umbrüche und großer Neuerungen mit weitreichenden ökonomischen und sozialen Folgen.
Die Mehrzahl der grundlegenden Erfindungen sind in wenigen Jahrzehnten um 1820 herum geschaffen worden, so Galvanik, Batterie und Elektrizität um 1790, Fallschirm und Heißluftballon 1783, das metrische System 1799, der mechanische Webstuhl 1785, das künstliche Gebiss 1770, die Pockenschutzimpfung 1796, die Dampfmaschine 1800, der Gasherd 1802, die Gaslaterne 1807, Konserven 1811, der Elektromotor 1821, die Photografie 1827, Schreibmaschine und Nähmaschine 1829 u.v.m. In der Folgezeit häuften sich Erfindungen und Neuerungen derart, dass die Aufzählung Seiten füllen würde. 

Die auch hier als Quelle zugezogene Krünitzsche Encylopädie startete 1772 als erstes Universallexikon Deutschlands. Der Autor Johann Georg Krünitz arbeitete sich mit 72 Bänden a 600 bis 800 Seiten in 20 Jahren alleine (!) bis zur Mitte des Alphabets voran, bis er verstarb. „Er kam bis zum Artikel „Leiche“, dann wurde er selbst zu einer“, heißt es im Vorwort des 73. Bandes. Seine Nachfolger benötigte weitere 200 Bände und 66 Jahre für die fehlenden Stichworte. Das Wissen vermehrte sich schneller, als man mit dem Schreiben eines Universallexikons mithalten konnte.   

Von all diesem Fortschritt ist bei Kreisphysikus Ludwig noch nicht die Rede. In Weilerswist, dem gesamten Kreisgebiet des Kreises Lechenich und in der Eifel war von Neuerungen um 1825 fast nichts zu spüren, von einigen wenigen mechanischen Webstühlen in Euskirchen abgesehen. 

Katholischer Konservativismus, mangelnde Bildung und eine damit verbundene geistige Starrheit hinderten über lange Zeit fast jeden Fortschritt. So ließ sich die schon im von Martin Luther geforderte und in Preußischem Stammland schon 1717  eingeführte Schulpflicht, hierzulande als „Schulzwang“ verstanden, selbst 1840 nicht durchsetzen. Ein Teufelskreis von Dummheit und Armut bei gleichzeitigem ungebremstem Bevölkerungswachstum führten zu einer dramatischen Verarmung ganzer Landstriche, vor allem in der Eifel. Den merklichen Rückgang der Eheschließungen im Kreis führte Ludwig auf diese wachsende Armut durch Missernten und Teuerung zurück. Die Folge waren Landflucht und Massenauswanderung nach Amerika. Insgesamt zogen 140.000 Menschen aus der Eifel, damals „Rheinisch Sibirien“ genannt, in Richtung Amerika; ein Anteil der Bevölkerung, der sonst nur im rückständigen, bettelarmen Irrland zu finden war.

Aus der Eifel in die neue Welt       ( Foto Pixabay)

Auch Dr. Ludwigs Sohn Hermann suchte 1850 sein Glück in Amerika. Er kam zwei Jahre später zurück, um auch seine Geschwister und Eltern in die neue Welt zu holen. Dr. Ludwig ließ sich nach 40 Jahren Dienstzeit als Kreisphysikus für zwei Jahre beurlauben, schloss seine gut laufende Arztpraxis und verkaufte sein Hab und Gut. Im Alter von 66 Jahren reiste er mit Frau, fünf erwachsenen Söhnen und Töchtern und einem weiteren Verwandten über London nach New York, um ein neues Leben in zu beginnen. Er praktizierte bis zu seinem Tod 1864 dort als Arzt. 
Wir verdanken seiner Bestandsaufnahme des Kreises Lechenich spannende  Einblicke in die Lebenswirklichkeit im alten Weilerswist vor knapp 200 Jahren.
 

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