Eine Schule für alle Kinder!
Der Kampf um Gesamtschulen –
eine unendliche Geschichte sinnlosen ideologischen Streites und der
Verdrängung von Realitäten
Die Grundidee der Gesamtschule, alle Kinder eines Volkes in einer gemeinsamen
Schule zu unterrichten, geht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Comenius forderte
dies in seiner „Große Didaktik“ und
widersprach damit seinen Zeitgenossen, die drei grundverschiedene Schulen forderten: eine für die
Landbevölkerung, eine für die städtischen Bürger und eine Gelehrtenschule für
künftige Akademiker.
Dieser grundsätzliche Streit ist bei uns nie wirklich
überwunden worden, noch immer gilt das
aus den 300 Jahre alten Gedanken im Ständestaat entwickelte dreigliedrige
Schulsystem aus Volksschule, Realschule und Gymnasium von den einen als
„Klassenschule“ beschrieben, von den anderen mit Zähnen und Klauen als
pädagogisches Nonplusultra verteidigt.
Nach Jahrhunderten getrennter Entwicklung der drei
Schulformen Volksschule, Realschule und Gymnasium brachte die Weimarer
Verfassung einen ersten Durchbruch für die Gesamtschule: Die ersten vier
Schuljahre sollten alle Kinder auf die gemeinsame Volksschule gehen, was zuvor
nicht der Fall war. Aus dieser Zeit stammt noch der kaum verständliche Satz in
unserem Grundgesetz (Art. 7, Abs.6) „Vorschulen bleiben aufgehoben“, der die
Gründung eigener gymnasialer
Grundschulen verbietet, wie es sie bis in die zwanziger Jahre gab. Vielleicht ist der bewusste Verzicht auf
den Namen „Gesamtschule“ der Grund, warum die gemeinsame Grundschulzeit von
vier, in manchen Bundesländern von sechs Jahren ganz aus dem Streit
herausgehalten wurde. Kaum einer ist sich bewusst, dass Grundschulen
vorbildliche Gesamtschulen sind.
Eine weitere Ausweitung und Verbreitung von Gesamtschulen
kam über einzelne reformpädagogische Schulversuche nicht hinaus. Erst nach dem 2. Weltkrieg rückte die Gesamtschule
wieder ins Blickfeld. So gab es einen ersten richtigen „Schulkampf“ um die
Gesamtschule – man glaubt es kaum- zunächst in Bayern. Die amerikanische
Besatzung wollte dort 1947 ein Gesamtschulsystem einführen, so wie es in den
USA üblich war und ist. Man hielt die Einteilung der Kinder in drei Schultypen
für viel zu früh und sah in einem undemokratischen Schulsystem auch einen Grund
für die Anfälligkeit der Deutschen für die Nazi-Ideologie. Die Bayrische
Regierung auf der anderen Seite sah
durch die Gesamtschule ihre katholische
Volksschule gefährdet und wehrte sich heftig und letztlich mit Erfolg dagegen.
Während sich in Deutschland das Wirtschaftwunder
verbreitete, blieb die Schulpolitik der Bundesländer starr. Bis zu Beginn der
60 Jahre verblieb absolute Mehrheit der Schüler auf der Volksschule, eine kleiner Teil zur Realschule und ein
winziger Teil von anfangs 5%- 7% besuchte ein Gymnasium. Die Einteilung
erfolgte durch die Schulen nach den Leistungen des vierten Schuljahres.
In gewisser Hinsicht war die Welt noch in Ordnung: Die
Volksschulen beschulten eine solch großen Anteil der Schülerschaft, dass es
allein deshalb keine Negativauslese sein konnte. Diese Mehrheit blieb in aller
Regel vor Ort, während die „Besseren“ mit dem Bus zur Realschule und
Gymnasium in die Stadt fuhren. Welch ein
Vorteil gegenüber heute! Volksschüler
erlernten qualifizierte Handwerks- oder Industrieberufe, Realschüler wurden zu
Kaufleuten, Bankern oder gingen in den mittleren Dienst der öffentlichen Hand
und Gymnasiasten waren die „zukünftige Elite“, die zu zwei Dritteln dann ebenfalls
im Höheren Dienst bei Staat unterkamen. Das scheint das Weltbild zu sein, das
gewisse altfordere Verteidiger der dreigliedrigen Schulsystems in den Köpfen
haben.
Schon in den 60-Jahren begannen die Volksschulen zu
schwächeln. Mit dem wachsenden Wohlstand
wuchs auch das Bedürfnis nach höherer Schulbildung; mit der Erkenntnis, dass in Schulen auch
Lebenschancen verteilt werden, schickten immer mehr Eltern ihre Kinder zu
höheren Schulen. „ Motto „Mein Kind soll es mal besser haben“.
Verschiedene Versuche, die Ausdünnung der Volksschule zu
verhindern, misslangen letztlich alle kläglich. Weder die Verlängerung der
Schulzeit auf neun, später 10 Jahre brachte Erfolg noch die 1967 erfolgte
Umbenennung der Volksschule zur “Hauptschule“ konnte die Entwicklung aufhalten,
die die Hauptschule zu Restschule werden ließ, auf dem Lande etwas langsamer,
in der Stadt schneller. Die Entwicklung war unaufhaltsam, zumal man ganz
nebenbei der Hauptschule alle neu entstandenen Integrationsaufgaben etwa für
Gastarbeiterkinder, Aussiedler etc. aufbürdete.
Die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Schulsystem wuchs und
führte um die gleiche Zeit, als die Hauptschule aus der Taufe gehoben wurde,
zur Forderung des Deutschen Bildungsrates nach Schulversuchen für
Gesamtschulen, damals noch mit Unterstützung der CDU-Bildungspolitik.
Ein Argument damals auch die Tatsche, dass die Mehrheit
aller Nachbarstaaten mit Gesamtschulsystemen höchst erfolgreich waren. Die
nordischen Staaten gelten bis heute als pädagogische Musterländer.
Auf die Schulversuche folgte die erste flächendeckende
Einführung der Gesamtschule durch die sozial-liberale Regierung Hessens unter
Kultusministerin Hamm-Brücher und wenig später in NRW.
Im Jahre 1978 versuchte die SPD geführte Landesregierung die
sogenannte „Kooperative Schule“ einzuführen. Das war mitnichten eine
Gesamtschule, wie sie in den Schulversuchen erfolgreich erprobt worden war,
sondern sollte lediglich die Möglichkeit eröffnen, bei den damals stark
sinkenden Schülerzahlen in bestimmten Fächern die Zusammenarbeit verschiedener
Schulformen in einem Gebäude zu ermöglichen. Eine Idee, nach der sich
heutzutage manche kleinere Gemeinde auf dem Land die Finger lecken würde, wenn
sie Hauptschule und Realschule mangels Masse nicht halten kann. Die neu
erfundene „Sekundarschule“ ist eine Neuauflage der Koop-Schule mit anderem
Namen. Die CDU führte damals eine beispiellose und sehr erfolgreiche Kampagne
gegen diese Koop-Schule, weil sie die klammheimliche Einführung der
Gesamtschule und die Abschaffung des Gymnasiums befürchtete. Freunde echter
Gesamtschulen waren ebenfalls dagegen. Seit jener Zeit sind die Fronten
unverändert und ist der Posten des Kultusministers in NRW ein gefährliches Amt. Man kann nur Fehler machen und keiner traut
sich zu handeln.
Während die Schulpolitik ruht und die Schulpolitiker ihre
ideologischen Scheuklappen pflegen,
ändert sich die Welt weiter. Die chronische Entscheidungsunfähigkeit der
Bildungspolitik hat zu folgender Lage geführt:
Die Hauptschule ist tot. Den Namen Hauptschule verdient sie
rein quantitativ schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Wo sie noch existiert, wird
sie als Sammelbecken für gesellschaftliche und pädagogische Problemfälle
missbraucht. Sie hält den anderen Schulformen, manchmal auch der
Gesamtschule, den Rücken frei. Trotz oft
hervorragender pädagogische Bemühungen: keine Chance.
Die Grundschulgutachten sind fragwürdiger denn je und dürfen
von den Eltern ignoriert werden. So
besuchen gut ein Drittel Schüler mit Hauptschulgutachten Realschulen, die
ihrerseits nichts mehr mit den Realschulen der 60ger Jahre zu tun haben. Eine
Banklehre ist mit einem Realschulabschluss nicht mehr zu bekommen. Die
Fachoberschulreife hat den Hauptschulabschluss ersetzt. Realschulen sind
inhaltlich wie zahlenmäßig seit langem auf dem Rückzug.
Haupt-Schule ist das Gymnasium geworden, das sich
selbstverständlich auch gewandelt hat, können doch nicht 60% eines Jahrgangs
zur zukünftigen „Elite“ gehören. Immer
mehr Abiturienten verzichten aufs Studium und gehen in eine Lehre. Das
Gymnasium hat schon lange die Rolle der Realschule angenommen. Mit einem
Gymnasialabschluss bekommt man auch manchmal noch eine Banklehre, wenn nicht
Absolventen Der HöHa vorgezogen werden.
Die Sekundarschule, kaum einer kennt auch nur den Namen, ist
weitgehend ein Flop. Wenige Ausnahmen bestätigen die Regel.
Die Gesamtschulen schließlich stehen in der Gunst der Eltern
wie Gymnasien hoch im Kurs. Gesamtschulen sind seit drei Jahrzehnten
Regelschule und arbeiten offensichtlich erfolgreich. Trotzdem gibt es immer
noch kein den Bedarf deckendes Angebot an Gesamtschulplätzen, landesweit werden
tausende Schülerinnen und Schüler abgelehnt. Während sonst auf allen Gebieten
mit Marktgesetzen hantiert und die Abstimmung mit den Füßen propagiert wird,
bleibt die Schulfrage in den Händen von Ideologen.
Wir leisten uns inzwischen fünf Schulformen: Die drei
Klassiker, die Sekundarschule und die Gesamtschule. Die Kosten für
Schülerspezialverkehr und Fahrkarten übersteigen alle anderen pädagogischen
Sachkosten erheblich.
Das Schlimmste: Die Abhängigkeit der Schulabschlüsse von der
sozialen Stellung der Eltern ist immer noch stärker als in den Nachbarländern
und wurde von der OECD gerügt. Da sind Gesamtschulen kein Wundermittel, aber
auf jeden Fall, auch wissenschaftlich erwiesen, um Klassen besser.
Zum Schluss:
Wir sollten uns die Arbeit der Grundschulen zum Beispiel
nehmen, die flächendeckend und seit Jahrzehnten nichts anderes sind als
Gesamtschulen.
Die Anforderungen des gemeinsamen Lernens aller Schüler
eines Volkes, so wie Comenius es vor drei Jahrhunderten forderte, haben in den
Grundschulen eine kreative, dynamische
Pädagogik hervorgebracht, die neue Anforderungen wie Inklusion nicht nur klaglos,
sondern vorbildlich meistert und Inklusion oft schon praktiziert hat, bevor sie
staatlich verordnet wurde.
Wie kann man eigentlich Inklusion von Behinderten in das
Regelschulsystem gut finden, den gemeinsamen Unterricht von Nichtbehinderten „Regelschülern“
innerhalb der Gesamtschule aber für
problematisch oder unmöglich halten? Logisch ist das nicht.Gesamtschule ist
kein Allheilmittel für persönliche oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Es
wird auch dort nur mit Wasser gekocht, wie überall.Der ideologische Kampf
sollte langsam vorbei sein. Es gibt keine politische Kraft mehr, die per „ordre
du mufti“ das Gymnasium durch Gesamtschulen ersetzen möchte, kein Mensch möchte
sich an diesem Thema die Finger verbrennen.
Aber worauf gründet das Recht, den Elternwillen nach
Gesamtschulen zu ignorieren und nicht einmal eine Abstimmung mit den Füßen
zuzulassen.Konkurrenz belebt das Geschäft und setzt Kreativität frei. Auch in
der Pädagogik. hp bergmann, 19. mai 2017
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